Es ist Donnerstag, der 28. März 2019. Nicole Themann ist mit ihrem Dienstwagen auf dem Heimweg nach Oppum, wo ihr Lebensgefährte Tim schon auf sie wartet. Vor einigen Minuten erst haben sich die beiden nach dem gemeinsamen Einkauf am Großmarkt voneinander verabschiedet, um in getrennten Fahrzeugen nach Hause zu fahren. Nicoles Ziel ist nicht mehr weit entfernt: Es liegt kurz hinter der Linkskurve, mit der die Hauptstraße die darunterliegende Bahnstrecke quert. Auf dem rechten Gehsteig führt ein Passant seinen Hund spazieren, der plötzlich vor Nicole auf die Fahrbahn springt. Sie reißt das Steuer reflexartig nach links, um dem Tier auszuweichen. „Keine gute Idee“, schießt es ihr durch den Kopf. Sie lenkt ruckartig gegen, verliert die Kontrolle über den Pkw und kracht frontal in einen Laternenmast. Der knickt um wie ein Ast im Wind und wird so zur gefährlichen Sprungschanze: Nicoles Wagen hebt ab, dreht sich in der Luft um die eigene Achse und schlägt schließlich mit der Fahrerseite in einen Baum ein. Die junge Frau verliert sofort das Bewusstsein. Ihr Dienstwagen verfügt zwar nicht über einen Seiten-Airbag, dafür aber über ein eingebautes Notrufsystem. Nur wenige Minuten nach dem Unfall erreichen Feuerwehr und Rettungswagen den Unfallort, an dem bereits mehrere Schaulustige Handyfotos der leblosen Frau machen.
Die 41-jährige, zierliche Nicole erzählt diese Geschichte mit einem entspannten, herzlichen Lächeln wie eine rückblickend absurde, fast lustige Anekdote. Von dem schrecklichen Unfall, der ihr vor rund viereinhalb Jahren Jahren beinahe das Leben kostete, zeugen auf den ersten Blick nur noch einige sichtbare Narben am Hals und den Unterarmen. Dass sie hier heute so sitzt, lächelnd, lachend, glücklich, ist ein Wunder, das Ergebnis von hohem medizinischen Sachverstand, unbändigem Lebenswillen und nicht zuletzt viel, viel Glück. „Meine Unterarme waren durch den Aufprall pulverisiert, ich hatte einen Schädelbasisbruch, unter anderem Frakturen am Becken, an der Halswirbelsäule, an den Rippen und am Schulterblatt. Weil sich das Lenkrad in meinen Bauch gebohrt hatte, waren meine Lunge kollabiert, meine Leber und Milz gerissen, die Bauchspeicheldrüse gequetscht. Die Feuerwehr musste mich aus dem zerstörten Fahrzeug schneiden, noch am Unfallort wurde ich reanimiert. Der erlittene Blutverlust betrug etwa 80 Prozent. Meine Überlebenschancen waren deutlich geringer: Sie wurden von den Ärzten des Helios Klinikums auf unter zehn Prozent beziffert.“ Nach der sieben- bis achtstündigen Notfalloperation – dem ersten von über zehn hochkomplexen chirurgischen Eingriffen und einer weiteren Reanimation, die während ihrer sechsmonatigen Zeit auf der Intensivstation durchgeführt wurden – wurde die junge Frau ins künstliche Koma gelegt. „Damit das Gehirn den Körper bei der Genesung nicht stört“, wie sie erklärt. „Was mit mir passiert ist, habe ich erst Monate später aus Erzählungen und Berichten rekonstruieren können. Auch die ersten Tage und Wochen nach dem Koma waren wie ein Traum. Ich bildete mir ein, ich sonnte mich auf einem Liegestuhl im Garten meines Bruders, während ich in Wahrheit auf der Intensivstation lag. Meine Besucher habe ich am Anfang gar nicht erkannt.“ Damit Nicole ihre Schmerzen ertragen kann und ihre zahlreichen Verletzungen verheilen, wurden ihr täglich bis zu zwei Litern Medikamente verabreicht. Als Nebenwirkung entwickelte sie nicht nur eine Propofol- und Analgetika-Resistenz, die es zunehmend erschwerte, sie für Operationen in Narkose zu versetzen, auch ihre Nieren wurden schwer in Mitleidenschaft gezogen.
Während Nicole wochenlang bewusstlos auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod balancierte, sahen sich ihre engsten Angehörigen – ihr Partner Tim, ihre Eltern Rainer und Angelika sowie ihr Bruder Steffen – indessen mit Fragen und Problemen konfrontiert, mit denen man sich eigentlich nicht beschäftigen möchte. „Die Polizisten, die nach dem Unfall bei mir klingelten, um mich abzuholen, sagten zwar, dass Nicole schwere Verletzungen erlitten habe, aber ich war nicht im Geringsten darauf vorbereitet, was ich im Krankenhaus vorfand“, berichtet Tim. Die stundenlange Wartezeit während der Operation dehnte sich für den studierten Elektrotechniker ins Endlose. „Niemand konnte mir etwas Genaues sagen. Als ich Nicole dann zum ersten Mal sah, nicht ansprechbar, unbeweglich in ihrem Bett, umringt von technischen Apparaturen und mit unzähligen Schläuchen im Körper, war das ein Schock.“ Doch die Zerreißprobe begann damit erst. Insgesamt dreieinhalb Monate lag Nicole im künstlichen Koma. In dieser Zeit konnten die Ärzte weder sagen, ob sie überhaupt noch einmal aufwachen, noch ob ihr Gehirn die Strapazen unbeschadet überstehen würde. Nicoles Vater nahm Tim irgendwann zur Seite: „Er fragte mich ganz offen, ob ich weiter für sie da sein und sie unterstützen wolle. Er habe Verständnis, wenn es nicht so sei. Aber diese Frage stellte sich für mich nicht. Ich wollte da sein, wenn Nicole aufwachte“, erinnert sich Tim an die schlimmste Zeit seines Lebens. „Auf jede gute Nachricht folgten fünf schlechte, es war ein ständiges Auf und Ab. Das Hauptproblem war Nicoles Bauchspeicheldrüse, die entzündet war und immer wieder Flüssigkeit in den Bauchraum abgab. Zeitweise standen die Spezialisten aus Intensivmedizin, Unfall-, Viszeral-, Neuro- und Thoraxchirurgie sowie aus Radiologie, Phrenologie und Pneumologie versammelt um ihr Bett, um über die nächsten Maßnahmen zu beraten und zu koordinieren. Stefan Nicolas, Leitender Arzt der operativen Intensivmedizin, bestätigt die Komplexität des Falles: „Frau Themann wurde als schwerstes, instabiles Polytrauma mit Verletzungen nahezu aller Organsysteme eingeliefert. In der ersten Notfalloperation wurde schon eine Massivtransfusion notwendig. Auch im weiteren Verlauf war ein eng abgestimmtes interdisziplinäres Vorgehen erforderlich. Von der Erstversorgung im Schockraum über die mehrfachen Operationen mit durchgehend aufwändiger Intensivtherapie bis hin zur Weaningklinik und den konsiliarisch beratenden Psychiatern waren fast alle operativen und konservativen Kliniken eingebunden.“ Aber letzten Endes konnten auch diese Spezialisten nur hoffen, dass Nicoles Herz angesichts der enormen Verletzungen und Belastungen nicht aufgab. „Die Ungewissheit und die ständige Angst waren furchtbar,“ bekräftigt Tim, „deshalb klammerte ich mich irgendwann ganz bewusst an die guten Nachrichten und die Hoffnung, dass Nicole überleben würde.“ Er sitzt nach der Arbeit stundenlang an ihrem Bett, liest ihr aus Büchern und Zeitungen vor oder spielt Spotify-Playlisten mit ihren Lieblingsliedern ab. Der Wäschekorb, der noch aus der Zeit vor dem Unfall unerledigt im Wohnzimmer stand, durfte auf gar keinen Fall weggeräumt werden: „Ich sagte: Der bleibt da, damit Nicole ihn selbst wegtragen kann, wenn sie wiederkommt!“, lacht er. Seine Beharrlichkeit und das „positive Mindset“, wie der rotblonde Hildener es bezeichnet, zahlen sich aus: Als Nicole nach einem ersten verfrühten Versuch zum zweiten Mal aus dem künstlichen Koma geholt wurde, hatten beide das Allerschlimmste überstanden.
Ihre Leidenszeit war damit allerdings noch nicht vorbei, denn jetzt begann die lange, schmerzhafte Rückkehr ins Leben. Mit ihren Angehörigen verständigte sich Nicole zunächst über eine Buchstabentafel: Aufgrund der künstlichen Beatmung konnte sie nicht sprechen, zum Schreiben fehlten ihr noch die motorischen Fähigkeiten. In der Mobilität war sie enorm eingeschränkt, jede Bewegung verursachte Schmerzen, bloß zu sitzen, kostete bereits enorme Kraft. Eine besondere Herausforderung stellte die Beatmungsentwöhnung auf der Weaning-Station dar. „Ich bekam Panikattacken, sobald man die Beatmung abschaltete, denn ich fürchtete sofort, zu ersticken“, berichtet das gebürtige Nordlicht aus dieser Zeit. Dazu musste Nicole regelmäßig zur Dialyse, weil ihre verbliebene Niere nur noch eingeschränkt funktionierte. Aber sie entwickelte in dieser Phase auch einen Kampfgeist, mit dem sie schließlich all diese Hürden überwand. „Mein Patenkind Jonte war meine Inspiration. Zu sehen, wie er laufen lernte, immer wieder aufstand, wenn er hinfiel, und unermüdlich weitermachte, bis er die ersten Schritte ging, hat mich motiviert.“ Doch nicht nur die Patientin selbst schöpfte Kraft aus den Erfolgen: „Über den mehrmonatigen Behandlungsverlauf entwickelte sich eine sehr persönliche, auch emotionale Beziehung des gesamten Teams zur Patientin“, lächelt Nicolas. „Aus gemeinsamer Sorge wuchs in kleinen Schritten mit Erreichen von Etappenzielen auch die gemeinsame Freude über die positive Entwicklung.“ Und nach langen sieben Monaten war es endlich soweit: „Als ich montags erfuhr, dass ich am Donnerstag nach Hause dürfe, habe ich angefangen, zu weinen“, gesteht die sympathische Krefelderin ganz offen.
Vier Jahre sind seitdem vergangen. Vier Jahre, in denen sich für Nicole und Tim alles verändert hat. Nicht zuletzt ihr Beziehungsstatus, denn vor einigen Monaten haben sich die beiden das Ja-Wort gegeben. „Ich habe eigentlich ständig Schmerzen, aber die kann ich ganz gut aushalten“, schmunzelt Nicole. Körperliche Belastungen erschöpfen sie stärker als zuvor und es gibt Momente, in denen ihre Aufmerksamkeit schwindet. Ein neues Körpergefühl macht sie zudem sehr viel empfindlicher für die Signale ihres Körpers, die oft mit der Angst verbunden sind, die geschädigten Organe könnten doch den Dienst versagen. Aber das alles nimmt sie gern hin für das zweite Leben, das ihr geschenkt wurde. Am 1. Juni 2020 absolvierte sie ihren ersten Arbeitstag nach dem Unfall, mittlerweile arbeitet sie wieder 30 Stunden in der Woche. Seit einigen Wochen hat sie ihren Tauchtauglichkeits-Schein wieder und für das kommende Jahr ist die gemeinsame Hochzeitsreise nach Mauritius gebucht. Für dieses neue Leben hat Tim seiner Frau im vergangenen Jahr sogar eine seiner Nieren geschenkt. „Es war schon ein bisschen Eigennutz dabei“, zwinkert er, „denn die Dialyse kostete uns beide enorm viel Lebensqualität.“ Die Transplantation ist gut verlaufen – für beide. „Wenn ich mitbekomme, über welche Nichtigkeiten sich manche Menschen aufregen, denke ich nur: Ihr wisst doch gar nicht, was echte Probleme sind!“, lacht Tim. Und Nicole resümiert: „Ich habe unendlich viel Glück gehabt. Dass ich nicht mit meinem eigenen, sondern dem Dienstwagen unterwegs war, dass die Feuerwache in der Nähe und mit dem Helios ein Maximalversorger vor Ort war, dass ich in meinem Leben nie geraucht habe. Das alles hat dazu beigetragen, dass ich heute hier sitzen und meine Geschichte erzählen kann.“ Zahlreiche Fotos erinnern noch an die wahrscheinlich größte Herausforderung ihres Lebens. Bilder, auf denen man die kaufmännische Projektleiterin kaum wiedererkennt und die noch einmal deutlich machen, was sie hinter sich gebracht hat. Die Schwestern der Intensivstation des Helios hat sie vor einiger Zeit noch einmal besucht, um sich persönlich bei ihnen zu bedanken. Und mit dem Ersthelfer, der maßgeblichen Anteil an ihrem Überleben hatte, hält sie bis heute Kontakt. Aber natürlich sind auch Freundschaften zerbrochen. „Man lernt in einer solchen Zeit, auf wen man sich wirklich verlassen kann“, sagt Tim ernst, aber ohne Vorwurf.
Viele Menschen, die schwere Krankheiten oder Notsituationen überstanden haben, erzählen, dass sie durch ihre Erfahrung eine andere Perspektive aufs Leben gewonnen haben: Sie wissen die kleinen Dinge mehr zu schätzen, mehr im Moment zu leben, anstatt ständig an morgen zu denken. Das ist für jemanden, dem diese Erfahrung fehlt, zwar nachvollziehbar, aber es bleibt abstrakt. Doch wenn man Nicole und Tim begegnet, fühlt man, was das bedeuten könnte: Ihre Ruhe, Gelöstheit, Entspanntheit sind tief und echt. Wir alle sind es gewohnt, zu klagen und mit unserem Schicksal zu hadern, aber die Themanns strahlen eine fast greifbare Zufriedenheit aus. Eine Zufriedenheit, die auf dem Wissen gründet, dass nichts Schlimmeres mehr kommen kann.